Ostsee

Verborgene Fracht

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„Der See ist zu eigen, dass sie alles, was in sie hineinfällt, umschließt wie ein Mantel des Schweigens. Spurlos verlieren sich in ihr Dinge, versinken, lösen sich auf und geraten schließlich in Vergessenheit.“

Marcus Wildelau

 

 

 

Die Ostsee ist ein ruhiges, kleines und bei Seglern und Touristen beliebtes Binnenmeer mit herrlichen Stränden und großartigen Naturräumen. Oberflächlich betrachtet. Unterhalb der Oberfläche gibt es allerdings Gründe zur Sorge. Die Ostsee ist das schmutzigste Meer der Welt. Aber davon will eigentlich niemand etwas wissen. In den vergangenen Jahrzehnten wurde vieles versenkt und eingeleitet, was nicht in die Ostsee gehört: konventionelle und chemische Kampfmittel aus zwei Weltkriegen, Atommüll, Stickstoffe aus Düngemitteln und Gifte aus Industrie und Landwirtschaft. Vieles davon wird von uns nicht als bedrohlich wahrgenommen oder ist schnell wieder vergessen, weil es nicht sichtbar ist, weil es nie sichtbar war. „Ich mache Bilder von der Ostsee und ihren Gestaden und blicke in die Richtung, in der sich etwas Furchtbares unsichtbar in der Tiefe befindet. Es sind keine Geheimnisse, nur unpopuläre Fakten. Was die Ostsee verbirgt, kann sich nur ein Betrachter vorstellen, der weiß, was er nicht sieht.“ Die Reihe wurde im analogen 4×5″ Großformat fotografiert.

„WIR DÜRFEN UNSERE AUGEN NICHT VOR ETWAS VERSCHLIESSEN, NUR WEIL WIR ES NICHT SEHEN KÖNNEN.“

Die Kunsthistorikerin Anna Zika erläutert Aspekte der ästhetischen Kategorie des Erhabenen in den Fotografien von Marcus Wildelau.

Größer als alle Vernunft - Erhabenes in den Ostsee-Bildern von Marcus Wildelau

Text von Anna Zika, FH Bielefeld

Die Gemälde des Greifswalders Caspar David Friedrich gelten Vielen als Inbegriff, ja als „Erfindung“ der Romantik. Kaum ein Blick auf weites Meer oder hohe Berge, der nicht an seinen Bildern gemessen würde. Dass wir diese Blicke als „schön“ erleben, ist tatsächlich eine Erfindung der Zeit um 1800. Bis dahin galt die offene See, deren Enden sich nirgends abzeichneten, als verschlingend und bedrohlich, bewohnt von übelwollenden Meerungeheuern; Hochgebirge, z.B. die Alpen, wurden als Missgeschick der Schöpfung und als so hässlich empfunden, dass manche Reisende lieber die Vorhänge ihrer Kutschenfenster schlossen, als sich dieser visuellen Zumutung auszusetzen. Von heute aus gesehen kaum vorstellbar, handelt es sich doch um viel und gern besuchte Reiseziele, die – so die Werbung für sie – Erholung und Gesundheit versprechen, Kraft und Freude. Wann und wie aber kam es zum Wandel der Sinne und der sinnlichen Wahrnehmung?

 

Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts versuchten Philosophen zu erklären, warum auch das Furchteinflößende und Abgründige, das Unübersehbare und Unbeherrschbare große Anziehung auf uns ausüben. So bestehe ein „angenehmes Grauen“ etwa darin, dass sich vor Schreck der Herzmuskel zusammenziehe und dann auch wieder entspanne. Diese Erfahrung sei bei der Betrachtung von Naturgewalten – Unwettern, Lawinen, Donnerschlägen oder Vulkanausbrüchen sowie dräuenden Schluchten – ebenso möglich wie bei der Betrachtung von deren Bildern. Voraussetzung war der sichere Abstand zu solchen Eindrücken und das berauschende Gefühl, über die Gefahr „erhoben“ und „mit gestärktem Selbstbewußtsein … entlassen“1 zu sein.

 

Den Begriff des „Erhabenen“ entlehnten ihre ersten Verwender der Rhetorik: dort bezeichnete das Erhabene den Moment großer Erschütterung und Bewegtheit. Im Englischen und Französischen umschreibt das entsprechende „sublime“ etwas, das jenseits der Grenzen unserer Wahrnehmung (und Vorstellungskraft) liegt. Impliziert ist jeweils die geistige Anstrengung, den ästhetischen Reiz mit Verstand und Seele zu verarbeiten.

 

Jahrhundertelang war das „Schöne“ immer auch „gut“, also sittlich einwandfrei, moralisch integer, funktional und liebenswert. Umgekehrt hatte das Böse, Falsche notwendigerweise als hässlich zu erscheinen, d.h. als Gegenteil von wohlgeformt, glatt, leuchtend, niedlich, angenehm für Auge und Ohr. Waren für die Produktion und Konstruktion von Schönheit Regeln unerlässlich, etwa die Einhaltung von Proportionen, kam die Wirkung von Hässlichkeit vor allem durch deren Fehlen zustande. Makellosigkeit läuft aber immer auch Gefahr, bei längerer Betrachtung Langeweile und schließlich Überdruss auszulösen. Die normative Ästhetik, die nur das Schöne bestehen ließ und alles andere als verworfen ausmusterte, wurde um die „gemischte Empfindung“ des Erhabenen zu einer „doppelten Ästhetik“ erweitert. Das stellte einen entscheidenden Modernisierungsschub im Denken abendländischer Menschen dar2. Hier behauptete sich das Erhabene wahlweise als Gegensatz zum Schönen, als dessen Vorstufe oder Steigerung und schließlich – eben in der Romantik – als das Schöne selbst3, als ein Wahrhaftiges, dessen Abgründe (jederzeit) ins Grauen umschlagen können.

Diesen schmalen Grat zwischen Schönheit und erstauntem Entsetzen beschreitet der Filmer und Fotograf Marcus Wildelau mit seinen Aufnahmen entlang der deutschen, estnischen, schwedischen und finnischen Ostseeküste. Auf den ersten Blick gleichen sie den Bildern, mit denen die Tourismusindustrie intensiver als je zuvor für die Ostsee als gemütsdeutschen Sehnsuchtsort wirbt. Doch während die visuelle Propaganda verschämt verschweigt, was die Wellen bergen, konfrontiert uns Wildelau genau mit dieser Fracht: kaum ein Meer ist durch Kriegs- und Industriemüll dermaßen vergiftet wie das Mare Balticum. Die Anrainerstaaten entsorgten hier unbekümmert chemische Kampfmittel aus den Weltkriegen, langzeitstrahlenden Atommüll, Stickstoffe und sonstige Gifte aus der technisierten Landwirtschaft.

 

Wir geraten in das Dilemma, die Fotografien „schön“ zu finden zu wollen, weil unsere Bewertungsmuster aus der Kunst und ihrer überlieferten Theorie stammen. Die Sehnsucht nach Schönheit wird durch das „Wiedererkennen“ malerischer Kompositionen, die Anmutung sanfter Farben und atmosphärischer Lichtstimmungen befriedigt; doch dem tritt nun das Wissen um die Verheerung der Motive entgegen. Überdies erinnert Wildelau einmal mehr daran, dass „Landschaft“ nicht der von der Natur geschenkte Erholungsraum ist, den wir als behagensfördernd erfahren dürfen; vielmehr wird „Landschaft“ vom Menschen bewusst (wenn auch bedenkenlos) nach seinen Bedürfnissen geschaffen und zugerichtet, bis hin zur zerstörenden Ausnutzung der Ressourcen.

 

Die historische Theorie des „Erhabenen“ setzte voraus, dass sich der Mensch im sicheren Abstand zur Katastrophe befinden müsse, um sie als die Sinne erregendes Schauspiel genießen zu können. Das wohlige Gefühl, keiner wirklichen Gefahr ausgesetzt zu sein, erweist sich heute als trügerisch, denn der Sicherheitsabstand ist längst nicht mehr gegeben! Marcus Wildelau hält uns an, die ästhetische Dimension des „Erhabenen“ um eine intellektuelle Dimension zu erweitern: Verseuchung und Umweltzerstörung sind dort mitzudenken, gar zu fühlen, wo wir sie (noch) nicht sehen können. Das hört sich schwierig an, ist aber möglich: denn das Meer ist weit und tief – damit entzieht es sich naturbedingt unserer vollständigen Erfassung. Es bietet somit vor dem Hintergrund einer „doppelten Ästhetik“ eine Projektionsfläche für Schönes und Furchteinflößendes zugleich! Im geweiteten Blick weiten sich der sinnliche und der gedankliche Horizont. „Wir wissen, was wir nicht sehen“ (M. Wildelau). Und damit sehen wir am Ende auch, was wir wissen. Die Erkenntnis der totalen Gefährdung unseres geliebten „Schönen“ führt zur Einsicht in die – selbstverschuldete – Bedrohtheit unserer eigenen Existenz und in die Dringlichkeit, endlich anders zu handeln.

 

Anna Zika

 

 

 

 

1Hubertus Gassner, zum Geleit, in: ders. (Hg.), Caspar David Friedrich. Die Erfindung der Romantik (Kat. zur Ausstellung im Museum Folkwang Essen und in der Hamburger Kunsthalle), München 2006, S. 11-17, hier S. 11.

 

2Vgl. ausführlicher Carsten Zelle, Schönheit und Erhabenheit. Der Anfang doppelter Ästhetik bei Boileau, Dennis, Bodmer und

Breitinger, in Christine Pries (Hg.), Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn. Weinheim 1989, S. 55-73.

 

3Vgl. Christine Pries, Einleitung. In: Pries 1989, a.a.O., S. 1-32, hier S. 3.

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Gestaltung: Thomas Wildelau

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